Beispiel des Monats Oktober 2025 für das ehrenamtliche Engagement Hochaltriger
Das Vertrauen bleibt
Barbara Siegel (84) aus Jena arbeitet als Flüchtlingspatin im Treff „Weltraum“.

Eine kleine Begebenheit aus den 90er Jahren beschreibt Barbara Siegel aus Jena vielleicht ganz gut: Täglich beobachtete sie, wie Flüchtlinge die vier Kilometer von ihrer Unterkunft in die Stadt gehen bzw. zurück. Sie bemerkt einen Mann, der humpelt und offenbar Schmerzen hat. Barbara Siegel dreht sich nicht weg, sondern spricht den Mann aus dem Kongo an, erfährt, dass er erst heute in Jena angekommen ist und Nägel im Bein hat, die längst hätten entfernt werden müssen. Spontan fährt sie ihn zu seiner Unterkunft im Wald auf der Höhe. Sie lädt ihn in ihre Wohnung ein und lernt später mit ihm Deutsch.
Aus der langjährigen Arbeit mit Geflüchteten sind einige Freundschaften entstanden, mit einer tschetschenischen Familie, Familien aus Iran, Irak, Afghanistan und besonders mit einer Familie aus Syrien, in der sich die 84-Jährige inzwischen aufgenommen fühlt. Für den syrischen Familienvater war es deshalb selbstverständlich, Barbara Siegel zur Preisverleihung nach Köln zu fahren. Dort erhielt die couragierte Jenaerin einen der zehn Preise „Engagement 80 plus“.
Mit dem Sammeln von Wäsche, Geschirr und Teppichen für die zahlreichen Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, hat für Barbara Siegel der Einsatz als Flüchtlingspatin angefangen. Ebenso half sie bei den Hausaufgaben für den Deutschkurs. Gut, dass die Helfergruppe den Laden des Vereins „Eine-Welt-Haus-JENA e.V.“ übernehmen und ihren Treff „WeltRaum“ einrichten konnte. Der versteht sich als ein niederschwelliges Angebot für Geflüchtete und interessierte Jenaer Bürger.
Die Stadtverwaltung sei dabei sehr entgegenkommend gewesen, betont Siegel. Überhaupt sei Jena keine fremdenfeindliche Stadt, sondern mit den Studenten und den hochqualifizierten Beschäftigten von Carl Zeiss mehrheitlich liberal eingestellt. Etwa 12 Ehrenamtliche und ein Festangestellter sowie gelegentlich ein Bundesfreiwilliger arbeiten heute im „Weltraum“ mit.
Barbara Siegel war einst selbst bei Carl Zeiss angestellt. Als Ingenieurökonomin arbeitete sie auch vier Jahre lang in der Moskauer Handelsvertretung des Optik-Kombinats. Mit der Wende kam die Arbeitslosigkeit. Dank ihrer Erfahrung stand Barbara Siegel bald wieder auf den Beinen und wurde Leiterin einer Wirtschaftsschule für Arbeitslose. Nach drei Jahren ging der Schule das Geld aus. Der Konkursverwalter aus Düsseldorf engagierte dann Barbara Siegel als Mitarbeiterin seiner Außenstelle in Jena. „Konkurse gab es ja genügend“, sagt Siegel. „Es war schlimm.“ Deshalb wechselte sie zum Projekt „Handwerker am europäischen Haus“ und organisierte Info-Fahrten durch Deutschland für Handwerker aus Litauen, Lettland, Russland und der Ukraine.
Nach so einer beruflichen Laufbahn ist man gerüstet, um Geflüchteten über all die bürokratischen Hürden zu helfen. Die 84-Jährige hat Kontakte zu Jobcenter, Krankenkasse, Ausländerbehörde und Standesamt. Nein, widerspricht sie, sie führe keine juristischen Auseinandersetzungen mit den Behörden. Sie rede mit ihnen über die vorhandenen Spielräume. Das gehe ohne Rechtsanwalt. Man müsse sich eben kümmern und dranbleiben, viel telefonieren und Mails schreiben. So hat Barbara Siegel die Verantwortlichen überzeugen können, dass die Geflüchteten eigene WLAN-Anschlüsse bekamen, um in ihrer Unterkunft telefonieren zu können und nicht im Außengelände im Winter wie im Sommer. Oft brauchte es nur einen kleinen Anstoß, so wie bei der Teerunde, die alle 14 Tage am offenen Feuer stattfindet. „Eine schöne Möglichkeit, um mit uns zusammenzukommen“, findet Barbara Siegel.
Wer anderen hilft, bekommt etwas zurück. Barbara Siegel half das Ehrenamt, eine „gewisse Leere“ auszufüllen, nachdem ihr Mann, den sie gepflegt hatte, gestorben war. Kontakt zu Geflüchteten hatte sie gelegentlich schon früher, und so war es naheliegend, als Flüchtlingspatin einzusteigen, als mehr Flüchtlinge nach Jena kamen. Sie habe damals wie Kanzlerin Angela Merkel gedacht: „Das schaffen wir“. Von Gleichgültigkeit und Vorurteilen hält die Jenaerin wenig. Schwierigen Gesprächen geht sie nicht aus dem Weg – „solange die Leute zum Zuhören bereit sind.“
Man könne es auch als ein Geschenk betrachten, wenn Menschen mit ihren Erfahrungen und ihren Neuigkeiten zu uns kämen, findet sie. Aus manchen Begegnungen habe sich großes Vertrauen entwickelt. Eine Frau, die Barbara Siegel wegen der Sprachbarriere zunächst zum Frauenarzt begleitete, unterstützte sie später bei der Geburt. „Ich saß im Kreißsaal hinter dem Vorhang.“ Das Kind ist inzwischen sieben Jahre alt. „Aber die Beziehung zu der Frau,“ so freut sich die 84-Jährige, „das bleibt.“